Andreas Steffens

 

Verschwindend erschienen

Rede zur Eröffnung der Ausstellung: Frank Hinrichs, Skripturen

Städtische Galerie Kaarst, 24.01.2016

 

  

In seinem >Manifest des Diasporismus<, einer der bedeutendsten Künstlerschriften unserer Zeit, bekannte der Maler Ronald Brooks Kitaj 1988: so hänge ich beim Malen Tagträumen über andere Orte nach.

‚Andere Orte‘, ‚Heterotopien‘, waren ein Thema des Philosophen Michel Foucault; sie sind eines der Leitmotive des Malers Frank Hinrichs.

Das hat nicht nur mit seinen persönlichen Vorlieben und Interessen zu tun. Es betrifft die Situation des Künstlers heute grundsätzlich. Denn er lebt in dem Paradox, dass sein Metier ortlos wurde, weil es überall anzutreffen ist, und jedermann für sich beansprucht, Anteil an ihm zu haben. Die schöne Sehnsucht der Avantgarde nach Durchdringung des Lebens mit Kunst verwirklichte sich als Gegenteil ihrer Totalvernutzung durch die Gesellschaft. Kein Ort, kein Platz, keine Situation, die heute noch als der Kunst unangemessen empfunden würde.

Überall ist nirgends; dass es einen eigenen Ort der Kunst gebe, wurde utopisch. Dort, wo man sie sucht, gehört sie nicht hin; dort, wo sie hingehört, sucht man sie nicht. Die Verwirrung wurde so total, dass man fast sicher sein kann, genau dort, wo Kunst auftritt, keine zu finden. An ihre Stelle trat ein Übermaß von Unkunst, hervorgebracht durch den Konsum- und Vergnügungszwang einer Gesellschaft, die am Überfluß so sehr erstickt, wie ihr Wohlstand sie langweilt.

Was einst die Situation des jüdischen Künstlers war, wie Kitaj sie in seinem Manifest beschrieb, bestimmt heute die Lage des Künstlers. Seine Existenz als Künstler ist nicht mehr in Übereinstimmung mit den ästhetischen Motiven seines Werkes. Was ihn als Person zum Künstler macht, setzt ihn in Widerspruch zu dem, was ihm als Sozialfigur Künstler abverlangt wird.

Das gilt für Frank Hinrichs besonders. Und hat mit ihm doch gar nichts zu tun. Denn abseits eines immer kunstfremder werdenden Kunstbetriebs hat er während der vergangenen dreißig Jahre in einer Arbeitsklausur ein Werk geschaffen, das keinen Platz an den Orten der Un-Kunst hat. Es bezeichnet mit jeder einzelnen Arbeit einen ‚anderen Ort‘. Seine Malerei ist eine der großen originellen künstlerischen Leistungen unserer Generation. Sie bewährt eine Kunst, die existentiell ist, weil sie aus den Erfahrungen des eigenen Lebens entsteht, und in ihrer Herstellung die Bedingungen, unter denen ein Menschenleben überhaupt geführt wird, reflektiert. Malerei wird in diesem Werk zu einer anthropoästhetischen Forschung: zur Selbst-Darstellung eines Daseins, das sich in den Gestaltungen seiner Selbst-Erfahrungen zu begreifen sucht.

Um das aushalten, und in einem Werk produktiv werden lassen zu können, bedarf es einer Haltung, die dem avantgardistischen Ideal der Identität von Kunst und Leben widerspricht. Gerade die Distanz des Künstlers zum Leben ist die unbedingte Voraussetzung dafür, dass sein Werk als Gestaltung seiner Erfahrungen zu seinem Verständnis beitragen kann.

Die äußerste Konsequenz, die als Gefahr in der Sehnsucht nach Identität lauert, hat Edgar Allan Poe in seiner Novelle >Das ovale Portrait< demonstriert. Ein Maler ist so besessen davon, ein ‚lebensechtes‘ Portrait seiner geliebten Frau anzufertigen, dass er darüber deren lebendige Gegenwart vergißt; während er ihr Leben darstellt, verkümmert es; als ihr Bild so vollendet ist, als wäre es sie selbst, stirbt sie.  

Die Drastik dieses Symbolismus macht ihn nicht falsch. Seine Mahnung ernst zu nehmen, verhilft zu einer angemessenen Wahrnehmung der raumplastischen Dimension, zu der Frank Hinrichs seine Malerei entwickelt hat. Denn der Eindruck, den sie im Betrachter widerstandslos weckt, ist ebenso gewaltig wie jener, der Poes Maler angesichts seines vollendeten Portraits überwältigt. Kaum gesehen, hat man schon vergessen, dass es Bilder sind. Unmittelbar fühlt man sich einer gewaltlos überwältigenden Wirklichkeit ausgesetzt. Umfangen von einer Anwesenheit, deren Teil man zu werden scheint. Man fühlt sich ergriffen, als geriete man in eine Situation lebendiger Natur.

Aber das ist Illusion. Man sieht etwas, nicht Darstellungen von etwas. Lässt die Verblüffung nach, und schaut man genauer hin, wird man entdecken, es gerade mit keiner realistischen Vortäuschung zu tun zu haben, sondern mit reinen Farbgebilden.

Der Preis, um den die Sehnsucht der Kunst sich erfüllt, Darstellung so ‚lebendig‘ werden zu lassen wie das Dargestellte, ist dessen Tod. Ein realistisches Bild ist ein Grab. Aber diese Bilder sind keine Gräber ihrer Motive, denn sie haben keine; sie sind Totenmasken des Prozesses ihrer Herstellung. Ihr Geheimnis ist ein Naturalismus des Formens, statt des Geformten. Diese Bilder sind gemacht, wie Natur die Welt macht.

Aus einem dynamischen Prozeß hervorgegangen, in dessen Verlauf die Hand in schriftähnlicher Geste die Schichten der Farbmaterie heftig bewegt durchzieht, schon entstandene Formen überdeckend, und neu ansetzend andere bildet, ab- und neu aufträgt, ritzt und schlägt, überträgt diese innere Dynamik der Farbereignisse in den Bildern sich auf den Außenraum ihrer Anwesenheit. Sie versetzt diesen in korrespondierende Spannung, indem ihre Innenbewegungen zwischen den Bildern energetisch zu fließen scheinen.

Paradoxerweise ist dies möglich aufgrund der stillgestellten Dynamik ihrer Anfertigung: je heftiger die im Bild eingefrorene Bewegung seiner Entstehung, desto größer wird der Wunsch des Betrachters nach ihrer Fortsetzung. Seine abgebrochene Dynamik strebt über die Ränder des Bildes weit hinaus.

Die streng informelle Gestik des Malens steigert sich zu einer Intensität, die sich in dem Moment, in dem sie unerträglich zu werden droht, in Erstarrung löst. Der Spannung einer Mahler-Symphonie gleich, die sich in Dissonanz explodierend löst, vollenden die Bilder sich als erstarrende Explosion ihrer zu höchster Verdichtung gesteigerten Farbdynamik. So erfüllen sie das Ideal einer ‚informellen Musik‘, wie Adorno es beschrieb, aus der Spannung von Vorstellung und Unabsehbarem zu entstehen. Ihre malerische Faktur folgt dem Prinzip eines offenen Prozesses, dessen Verlauf sich aus einer Folge ineinander übergehender spontaner Mikroentscheidungen ergibt, die auf dem Grat von Zufallsprovokation und Ergebniskontrolle in Sekundenbruchteilen aufeinander folgend getroffen werden.

Damit entspricht der Entstehungsprozeß dieser Malerei exakt dem organischen Lebensprozeß. Der Natur entspricht die Kunst nicht in dem, was sie zeigt, sondern darin, wie sie gemacht wird. Die von Goethe zuerst formulierte Maxime ist desto fruchtbarer geworden, je mehr Natur selbst von Kultur gestaltet wird. Das Gebildete wird sogleich wieder umgebildet, und wir haben uns, wenn wir einigermaßen zum lebendigen Anschaun der Natur gelangen wollen, selbst so beweglich und bildsam zu erhalten, nach dem Beispiele mit dem sie uns vorgeht.

Scheinbar Darstellungen einer Flora, ist das ‚Lebensgesetz‘ dieser Bilder das der Metamorphose so genau wie es das wirklicher Pflanzen ist. Als Entstehung einer Gestalt im übergangslosen Fließen des Entstehens und Vergehens von Formen im Strom der Farbverläufe retten sie die Zeit ihres Entstehens in die Gestalt ihrer Präsenz als Dinge im Raum. So wird das Geschehen auf der Leinwand, das das Bild als dreidimensionales Ding im Raum hervorbringt, zu der extrem verdichteten und zeitlich gerafften ästhetischen Gestalt des elementaren Lebensprozesses.

Der ‚Tod‘ im Abbruch seiner Entstehung, der das Bild zur Totenmaske der Lebensströmung macht, die es erzeugte, ist der Beginn seines Lebens als Zeugnis des unendlichen Prozesses von Werden, Wandel und Vergehen, für den es keinen Endpunkt gibt, außer das Ende allen Seins in der Entropie des Universums. So kann Kunst ein Naturerlebnis erzeugen, das die längst zur Kultur gewordene Natur selbst nicht mehr bietet.

Diese Vitalität ihrer Herstellung läßt diese Malerei zu einem Akt der Wiederherstellung von Kunst in der Zeit der Unkunst werden, und ihr einen Ort bereiten, an dem sie sein kann, was sie ist. In einem Werk wie diesem wird das Erscheinen der Kunst im historischen Moment ihres Verschwindens zum ästhetischen Ereignis.

Damit gehört es zu den Vorbereitern einer neuen Avantgarde. Sie wird es schwer haben. Aber die Leichtigkeit des Gelingens war schon immer die Prämie des Mutes zum Schweren.